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Frauen dabei unterstützen,

zurück ins Leben zu finden

Schwester Annemarie Pitzl hilft Opfern von Menschenhandel, Prostitution und Gewalt

DERNBACH. „Ich bin durchaus feministisch, aber nicht unbedingt im Sinne von Alice Schwarzer“, sagt Annemarie Pitzl. Die 66-jährige Ordensfrau, die gebürtig aus dem oberbayerischen Schonau stammt und heute in Koblenz wohnt, gehört seit 40 Jahren zu den Dernbacher Schwestern. Seitdem hat sie sich immer wieder für Frauen eingesetzt: „Ich habe gesehen, wie benachteiligt die eine Hälfte der Gesellschaft zum Teil ist. Deshalb will ich mich engagieren, damit auch Frauen Zugang zu Schule, Ausbildung und Studium haben“, erklärt Schwester Annemarie.

Viele Jahre ist sie dazu für ihre Ordensgemeinschaft in Nigeria tätig, seit 2016 engagiert sie sich in Deutschland außerdem für die Menschenrechts- und Hilfsorganisation SOLWODI – „Solidarity with Women in Distress“ (übersetzt: „Solidarität mit Frauen in Not“).

Keine schnellen Erfolge

SOLWODI berät und betreut Frauen, die Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Beziehungsgewalt geworden sind. „Das ist keine Arbeit, die zu schnellen Erfolgen führt“, sagt Schwester Annemarie, „aber eine Arbeit, in der wir den Frauen wieder ins Leben helfen können.“ Was beeindruckt sie am meisten an diesen Frauen? „Ihre innere Stärke und ihr Mut, sich weiterhin aufs Leben einzulassen“, erklärt die Schwester.

Mehrere Jahre spielte die gelernte Bankfachfrau mit dem Gedanken, einer Ordensgemeinschaft beizutreten. Am 1. April 1978 tritt sie der Kongregation der Armen Dienstmädge Jesu Christi in Dernbach bei. Wenig später feiert sie in Rom die Seligsprechung von Katharina Kasper mit. „Was mich fasziniert an unserer Gründerin, ist, dass eine einfache Frau so viel bewegen kann. Sie ist ein vom Heiligen Geist geführter Mensch“, sagt Annemarie Pitzl. „Unserer Gründerin war es wichtig, immer dort zu dienen, wo es die Nöte der Zeit erfordern.“

Menschen in Not sehen und aktiv werden, das lebt auch die Ordensschwester seit 40 Jahren. Bevor sie sich entschließt, sich für SOLWODI zu engagieren, unterhält sie sich lange mit Schwester Lea Ackermann, der Gründerin des Vereins. „Ich bin mit viel Unruhe im Herzen nach Hause gegangen und war schnell überzeugt, mich dort zu engagieren“, erzählt Schwester Annemarie. So war sie zum Beispiel in Schutzwohnungen der erste Kontakt für Frauen, die Hilfe benötigen. „Das sind fast immer Frauen mit Migrationshintergrund. Im vergangenen Jahr hatten wir in Deutschland fast 2300 Erstanfragen in den SOLWODI-Beratungsstellen von Frauen aus mehr als 100 Ländern.“ Meist vermittelt die Polizei, die Caritas oder die Diakonie Frauen, die Gewalt erlebt haben oder sexuell ausgebeutet werden. SOLWODI unterstützt die Frauen zum Beispiel bei Behördengängen, etwa zum Jobcenter, oder vermittelt auch Sprachkurse.

Im Bordell bei Prostituierten

Um die Frauen, von denen viele als Prostituierte arbeiten mussten, besser verstehen zu können, war Schwester Annemarie auch in Bordellen. „Manche Schwestern finden es furchtbar, wenn sie hören, dass ich auch in ein Laufhaus gehe. Wenn mir mal einer gesagt hätte, du gehst ins Bordell, dem hätte ich gesagt, du spinnst wohl. Aber ich war im Laufhaus, um zu sehen, wie es den Frauen dort geht. Man muss sich das so vorstellen: Die Frauen sitzen vor ihren Zimmern und Männer suchen eine Frau aus. Da ist bei den Frauen nichts mit Freiwilligkeit, da steckt große Not, oft Menschenhandel dahinter. Wenn die Polizei das herausfindet, wird SOLWODI oft kontaktiert und vermittelt zum Beispiel den betroffenen Frauen Anwälte.“

Während ihrer Arbeit hat Schwester Annemarie eine junge Frau aus Afrika kennengelernt. „Sie ist mit Schleppern nach Europa gebracht worden, wusste aber nicht, dass hier die Prostitution auf sie wartet. Auf der Flucht war sie vergewaltigt worden. In Deutschland musste sie dann ins Bordell, um ihre Schulden abzuarbeiten, die sie aufgrund der Flucht bei den Schleppern hatte.“ Das seien oft hohe Summen zwischen 30 000 und 60 000 €. „Bei einer Razzia wurde sie dann aufgegriffen und von der Polizei an SOLWODI vermittelt. Aber nach ihrer Rettung schaffte sie es eine Woche nicht aus ihrem Zimmer heraus. Sie hat sich buchstäblich die Decke über den Kopf gezogen; auch, weil sie mit einem Voodoo-Zauber eingeschüchtert worden war.“ Mittlerweile habe die Frau eine andere Arbeit und etwas Deutsch gelernt und werde nach wie vor begleitet. „Solche Geschichten zeigen, dass sich jeder Einsatz lohnt.“

Schwester Annemarie hat vor kurzem Leitungsaufgaben für ihre Gemeinschaft übernommen. Ihre Arbeit bei SOLWODI pausiert vorübergehend. Dennoch habe sie immer noch regelmäßig Kontakt mit einigen der Frauen. „Am besten ist es dann, wenn die Frauen wieder ihre eigenen Qualitäten entdecken und ein eigenständiges Leben führen können.“ Wichtig ist: „Wir entscheiden nicht für die Frauen, sondern mit den Frauen. Sie müssen sich selbst fragen: Was kann ich tun, um meine Situation zu verändern?“

Ohne Ordenskleid erreichbarer für die Menschen

Wenn es um ihr Schwesternsein geht, spricht Schwester Annemarie von Berufung. „Ich habe mir sehr lange Zeit gelassen, bis ich wusste, das ist das Richtige für mich. Meine Eltern konnten das überhaupt nicht verstehen“, erzählt die Ordensfrau. Ihre Mutter habe gedacht, die Tochter gebe an der Pforte den eigenen Willen ab. Doch das ist nicht die Erfahrung, die Schwester Annemarie gemacht hat: „Zu einem Profess gehört natürlich Gehorsam. Aber das ist kein blinder Gehorsam, das hat etwas mit Mitdenken und Dialog zu tun. Man muss mit dem Herzen dabei sein. So steht es auch in der Bibel: Gott gab den Menschen auch ein Herz zum Denken.“

Das tägliche Gebet ist für Schwester Annemarie Lebensgrundlage. Sie hört gern Musik, singt mit Orgelbegleitung, spielt Blockflöte oder selbst Orgel. „Ich bin eine Leseratte, und ich laufe gerne, um Abstand zu gewinnen und klarer sehen zu können. Es hilft manchmal, wegzugehen von dem Ort, wo ich keine Lösung für ein Problem finde, um dann wiederzukommen.“ Seit den 1990er Jahren trägt sie keine Ordenskleidung mehr. „Ich wollte das erst einmal ausprobieren, habe aber immer wieder die Rückmeldung bekommen, ohne Ordenskleid sei ich erreichbarer. Die Kleidung ist nicht entscheidend. Es ist wichtig, normal unter den Menschen sein zu können.“

In der Reihe „Katharina und ihr Werk“ porträtiert das Bistum Limburg zur Heiligsprechung von Katharina Kasper in Rom verschiedene Dernbacher Schwestern. Im Gespräch erzählen die Ordensfrauen von ihren verschiedenen Arbeitsfeldern, warum sie ihren Berufungsweg eingeschlagen haben und was sie an KatharinaKasper anspricht. Weitere Porträts: heilige-katharina-kasper.bistumlimburg.de


Westerwald-Post Süd AW vom Samstag, 3. November 2018, Seite 3